Es ist 5.00 Uhr der 10. November 1989. Ich komme gerade auf der Arbeit an, schließe die Tür, denn draußen sind es nur 10 Grad über Null. In der Küche dampfen die ersten Kessel. Ich ziehe mich um. Als ich arbeitsbereit bin, stürmt eine Kollegin hinein und sagte aufgeregt
„Habt ihr schon gehört, die Mauer ist auf!“
Nein, hatte ich nicht und viele meiner Kolleg(inn)en auch nicht. Im Nachhinein wundere ich mich immer wieder, wie viele das schon am 9. November erfahren haben wollen. In diesen Tagen war jeder Tag ein bisschen anders. Ständig passierte etwas, mit dem die Menschen nicht gerechnet hatten. Es fanden Demonstrationen statt, PolitikerInnen kamen und gingen. Es gab endlose Diskussionen in allen Strängen eines sich verändernden und kurze Zeit später, eines sich auflösenden Staates.
Die Menschen waren in der Zeit des Umbruchs mit einer Politik konfrontiert, die ständig den Veränderungen hinterherhetzte. Beschlüsse die durch die Regierenden gestern gefasst wurden, waren am Tag danach Makulatur. Die Menge an Informationen und die Fülle der Ereignisse führte bei vielen Menschen zu einer Reizüberflutung.
Hier nur ein kleiner Abriss der Ereignisse:
Samstag, 7. Oktober |
Der 40.Jahrestag der DDR endet in Berlin mit Protestdemos, die gewaltsam aufgelöst werden. |
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Mittwoch, 18. Oktober |
Erich Honecker tritt zurück, Egon Krenz wird neuer SED-Chef. |
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Samstag, 4. November |
Größte Protestdemo in der Geschichte der DDR in Berlin. |
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Dienstag, 7. November |
Rücktritt der Regierung der DDR |
Innerhalb von 30 Tagen passierte sehr viel. Allein ein Ereignis dieser Aufzählung, war für sich genommen schon unvorstellbar. Trotzdem versuchte ich immer die aktuelle Lage zu verstehen.
Am 09.11.1989 kam ich gegen 16.00 Uhr nach Hause. Es war ein gewöhnlicher Herbsttag. Nach dem Essen las ich wie immer in der Berliner Zeitung. Müde von der Arbeit und den täglichen Geschehnissen, fiel ich gegen 19.30 Uhr in mein Bett. Schon halb im Schlaf, verfolgte ich noch die Nachrichten der „Aktuellen Kamera“. Dabei vielen mir die Augen zu, obwohl die neuen Reisevorschriften vorgelesen wurden. Die „Tagesschau“ verpasste ich diesmal und somit hatte ich keine Ahnung von dem was in der Nacht passieren sollte.
„Habt ihr schon gehört, die Mauer ist auf!“
Gehört hatten wir es an diesem Morgen schon einige Male. Nur Glauben konnten oder wollten es viele der 20 Kolleg(inn)en nicht. Also schalteten wir kurzerhand das gute alte „Jena 5020“ an. Ein immer noch gut funktionierendes Radio aus dem Jahre 1962. In den letzten Monaten lief während der Wochenenden, der eine oder andere Sender aus dem Westen Berlins. Innerhalb der Woche ging das nicht, da ständig ein Vorgesetzter meinte, er müsste der Parteipflicht nachkommen und zum demonstrativen Umschalten des Senders auffordern.
Doch an diesem Tag war alles anders. Der RIAS war eingeschaltet und es liefen die Berichte die heute jeder kennt. Nachdem wir so langsam begriffen hatten, was in der Nacht geschehen war, kamen die ersten Sorgen auf, dass die Öffnung der Mauer nur eine historische „Fehlleistung“ von ein paar Stunden ist. Alle sahen die Gefahr, dass die alte Garde der Politik, die in den letzten Atemzügen lag, alles wieder rückgängig machen könnte.
Doch die Sorgen erwiesen sich als unbegründet. Mit jeder Stunde wurde klarer, das weiße Ding, das ich als kleines Kind immer so bestaunt hatte, weil es in einem so schönen Weiß strahlte, ist löchrig wie ein Schweizer Käse geworden. Gegen 7.00 Uhr rief ich meinen Vater an.
„Habt ihr schon gehört, die Mauer ist auf!“
Ja, auch meinen Eltern waren die Neuigkeiten schon bekannt. Wir spekulierten darüber, ob die Grenzöffnung die nächsten Tage bestehen blieb. Nach anfänglichem Zögern, konnte ich Ihn überzeugen, für den Nachmittag selbst vor Ort zu sein. Gegen 15.00 Uhr trafen wir uns am Alexanderplatz und fuhren mit der U-Bahn zum Bahnhof Vinetastraße. Wenig später waren wir dann in der Nähe des Grenzübergangs.

Grenzübergang Bornholmer Straße
Urheber: Peter R. Asche
Lizenztyp:

Tausende Menschen waren vor uns. Der Übergang war noch nicht zu erkennen. Also warteten wir geduldig. Eine Eigenschaft die wir in der Vergangenheit zu Genüge gelernt hatten. Es ging langsam voran. Irgendwann waren wir in der Nähe der Passkontrolle. An diesem Ort hatte alles wenige Stunden vorher begonnen. Ausgangspunkt war das berühmte Missgeschick des Herrn Schabowski.
Im Laufe des Tages, gab es immer wieder Unklarheiten wie die „Ausreise“ durchgeführt werden sollte. Mal sollte man zu den Meldeämtern gehen, mal wurden die Pässe an der Grenze durch einen Stempel ungültig gemacht. Heute meine ich mich zu erinnern, das wir kurz unsere Pässe beim Grenzübertritt zeigen mussten.
Und dann war er da, der große Moment. Wir befanden uns hinter der Grenzkontrolle und kurz vor dem damaligen Westberliner Gebiet. Vor uns, hinter uns, neben uns eine große Menschenmenge. Noch auf der Mitte der Bösebrücke wurden wir von Berlinern aus dem anderen Teil der Stadt begrüßt. Vor Rührung hatten wir Tränen in den Augen. Der eine weil er nie damit gerechnet hat, der andere aus Gründen, die ich hier nicht erwähnen möchte. Schon Monate vorher hatte mein Vater die Überzeugung vertreten, dass aufgrund der vielen Geschehnisse, dies das Ende der DDR ist. Wir hatten oft darüber diskutiert. Dieser Tag war der Moment, an dem ich fühlen konnte, das er mit seiner Meinung wohl richtig lag.
Der Grund am „Tag danach“ die neue Reisemöglichkeiten auszuprobieren, hatte verschieden Facetten. Leider hört man in Bezug auf den 09.November 1989 nur den Begriff „Freiheit“. Der Fall der Mauer, war aber nicht nur ein Ereignis der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, sondern zugleich ein von Materialismus geprägter Drang.
Das kann auch 25 Jahre danach nicht verwundern. Stellvertretend für eines der viele Gründe, sei hier das Fernsehen der Bundesrepublik genannt, das viele Menschen in der DDR verfolgen konnten. Die Masse an Waren und Dienstleistungen die man in der Werbung bestaunen konnte, waren für die meisten unerreichbar.
Da kam das Begrüßungsgeld, eine Unterstützungsleistung der BRD für einreisende DDR-Bürger in Höhe von 100,00 DM gerade recht. Eine der vielen Diskussionen an diesem Tag, war auch der Weiterzahlung dieses Geldmittels gewidmet. 1970 eingeführt, war es eigentlich nicht für den „Tag X“ vorgesehen. Noch in der Nacht zum 10.11. ordnete der damalige Regierende Bürgermeister Momper, die Auszahlung des Begrüßungsgeldes durch Banken und Sparkassen an.
Auch für uns, war der Weg zu einer der vielen Auszahlungsstellen, das erste Ziel. In der Nähe der Pankstraße befand sich eine Filiale der Deutschen Bank. Ca 1000 Menschen standen davor.
Als gelernter Bürger der DDR, war man das Anstellen gewöhnt. Mein Vater zog mich jedoch plötzlich zur Seite und ging mit mir einfach an das vordere Ende. Damals hatte ich mich mächtig dafür gegrämt, aber ich hatte die erste Lektion in der neuen Zeit erfolgreich gelernt.
Glücklich hielt ich die 100,00 DM in der Hand. Diese Art von Zahlungsmittel hatte ich vorher nur bei privilegierten Personen gesehen. Es hatte Monate gedauert, bis ich das Geld ausgab. Immer wenn ich dachte, die gesellschaftlichen Änderungen sind ein Traum, schaute ich diesen Schein an.
Langsam wurde es Dunkel und wir spazierten durch den Wedding als wäre es immer schon so gewesen. Nach einigen Stunden im Westen Berlins näherten wir uns dann der Berliner Mauer am Brandenburger Tor. Es wurde noch einmal sehr emotional. Denn das Brandenburger Tor von der anderen Seite zu sehen, war nicht an einen einzigen Tag meines bisherigen Lebens denkbar. Auf der Mauer standen unzählige Menschen. Das konnte ich mir nicht entgehen lassen. Ein paar nette Menschen, zogen mich auf die Stück Beton, das Berlin in zwei Hälften teilte.

Brandenburger Tor
Urheber: Alfred Brautschek
Lizenztyp:

Was ich nie mehr vergessen werde, ist der Klang der Meißel, Hämmer und Spitzhacken, die Mauerteile herausbrachen. Der Name Mauerspechte war schon nach wenigen Stunden geboren. Noch heute lassen mich ähnliche Klänge sofort wieder an diesen Tag denken.
Als ich von der Mauer wieder heruntergeklettert war, genossen wir an diesem Ort, noch eine Zeit das historische Ereignis. Überall zufriedene Gesichter, Freude und doch zugleich immer noch die Besorgnis, das dies ein einmaliger Ausflug war.
Wir sollten uns täuschen!
PS: Dieser Artikel entstand aufgrund vieler Nachfragen zum Thema. Ich bedanke mich ausdrücklich bei wir-waren-so-frei.de für das Bildmaterial.
Die Welt ist schön, wenn Du sie änderst!